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Robert Rotifer, UK-Korrespondent FM4 , 7.5.

Hypothesen einer Existenzkrise

Warum Großbritannien nach diesen EU-Wahlen drei Jahre des größten anzunehmenden politischen Chaos drohen.

Nicht alle nationalen Stereotypen sind völlig aus der Luft gegriffen, paradoxerweise am wenigsten jene, die auf nationalen Wetterlagen beruhen: Während man in Österreich im Vertrauen auf zentralanstaltliche Schlechtwettervorhersagen bei Trockenheit und Sonnenschein folgsam zuhause bleibt, haben die Briten gar keine andere Wahl, als der klimatischen Wechselhaftigkeit ihrer Insel mit Unerschrockenheit und Spontaneität zu begegnen.

Auf die sogenannte Mentalität umgelegt, ist dieser Zugang zwar geistig befreiend, manchmal aber auch eher riskant und ungesund. So ließe sich kaum eine andere etablierte Nation vorstellen, die derartig unvorbereitet einer wahrhaften Existenzkrise entgegen taumelt. Alles, was es dazu braucht, ist das Eintreten folgender realistischer Szenarien:

Juni 2014: UKIP vorzeitig ins Unterhaus?

Angenommen, die europhobe UKIP gewinnt tatsächlich die britischen EU-Wahlen und hinterlässt die drei etablierten Parlamentsparteien (Konservative, Labour und Liberaldemokraten) in angeschlagenem Zustand. Ein solches Ergebnis würde als sofortige Konsequenz dem UKIP-Kandidaten Roger Helmer den Rücken stärken, der bei den vom Rücktritt eines konservativen Abgeordneten ausgelösten By-Elections im Wahlkreis Newark am 5. Juni um den ersten Sitz seiner Partei im Unterhaus kämpft.

Helmer, ein Ex-Tory und Abgeordneter zum Europa-Parlament, der in der Vergangenheit unter anderem meinte, Homosexuelle könnten „umgedreht“ werden, die Armee solle auf Randalierer schießen und Frauen hätten Teilschuld an Vergewaltigungen, wenn sie bei ihrem Freund „Erwartungen“ weckten, wurde nach der Bekanntgabe seiner Kandidatur heute in den Straßen von Newark als Volksheld gefeiert.

Wenn er diesen Sitz gewinnt, bedeutet das für die bisher dank des britischen Mehrheitswahlrechts von Westminster ausgeschlossene rechtspopulistische Partei einen vorzeitigen Einzug ins Unterhaus – und das am Beginn eines einjährigen Wahlkampfs, der die konservativ-liberaldemokratische Regierungskoalition vor einige Zerreißproben stellen wird. Schließlich müssen die Liberaldemokraten als von der Regierungsbeteiligung beschädigte Ex-Protestwählerpartei dringend ihre eigene Linie definieren, wenn sie 2015 nicht völlig aufgerieben werden wollen.

Die Unterhauswahlen sind aber gar nicht das nächste demokratische Großereignis in Großbritannien. Das ist vielmehr die Abstimmung über die schottische Unabhängigkeit am 18. September.

September 2014: Farewell Schottland?

Die Regierungsfraktionen von Westminster zogen als einige Verfechter eines Fortbestands der britischen Union siegessicher in diese Kampagne. Spätestens seit den offenen Drohungen von Schatzkanzler George Osborne, den Schotten das angestrebte Festhalten am britischen Pfund zu verweigern, hat sich nördlich des Hadrianswalls aber eine trotzhafte Grundstimmung breitgemacht, die ein „Yes“ für die Selbständigkeit immer realistischer erscheinen lässt.

Bisher hatte die EU der britischen Regierung Schützenhilfe geleistet. Kommissionspräsident Barroso meinte erst im Februar, ein unabhängiges Schottland würde es „schwierig bis unmöglich“ finden, der EU beizutreten.
Aber First Minister Alex Salmond von der Scottish National Party drehte Ende April mit seiner Rede in Brügge den Spieß um: Falls die Briten – so wie es die Meinungsumfragen nahelegen – bei einer EU-Abstimmung im Jahr 2017 mehrheitlich für einen Austritt stimmen sollten, würden sie damit Schottland „gegen seinen Willen aus der EU zerren, es sei denn, wir entscheiden uns diesen September dazu, unsere Lage zu verändern.“ Sprich: Unabhängig zu werden, und danach sofort eine EU-Mitgliedschaft anzustreben.

Eine taktisch ziemlich schlaue Position, denn im Gegensatz zu England will eine klare Mehrheit der schottischen Wähler_innenschaft EU-Mitglied bleiben. Wenn UKIP nun die Euro-Wahlen gewinnt und in Folge die EU-Austritts-Tendenz in Großbritannien erstarkt, könnte die Aussicht auf ein EU-freundlicheres, unabhängiges Schottland das Pendel endgültig in Richtung „Yes“ bugsieren.

Mai 2015: Unterhauswahlen als Farce?

Falls Schottland für die Unabhängigkeit stimmt, würde diese im Jahr 2016 in Kraft treten. Für die britischen Unterhauswahlen im Mai 2015 folgen daraus zwei ungelöste Grundsatzfragen:
Dürfen die Schotten dann mitwählen, obwohl sie ein Jahr nach den Wahlen in einem anderen Staat leben werden?
Und wenn ja, verschwinden dann die Abgeordneten schottischer Wahlkreise 2016 aus dem britischen Unterhaus?

Unglaublicherweise scheint es für solche Eventualitäten noch keinen fixen Plan zu geben, aber andererseits kommt dieses Land auch schon seit Jahrhunderten ohne geschriebene Verfassung aus.

Also: Derzeit stellt die Labour Party im Unterhaus 41 schottische Mandatare, die Liberalen haben 11, die Scottish National Party 6 und die Tories nur einen.

2016: Regierungskrise im Reststaat?

Falls Labour den derzeitigen Umfragen entsprechend die nächste Wahl knapp gewinnt, könnte die Partei daher theoretisch 2015 den britischen Premierminister stellen und ein Jahr später mit der vollführten Abspaltung Schottlands die Parlamentsmehrheit verlieren, notfalls bei einer Neuwahl.

In England und Wales allein haben die Konservativen nämlich eine solide Mehrheit.
Es sei denn, dass – wie eine heute veröffentlichte Umfrage im Auftrag der British Election Study nahelegt – UKIP es schafft, den vorausgesagten Wahlerfolg in den EU-Wahlen erstmals auch in die Unterhauswahlen mitzunehmen.

2017: EU-Austritt samt Tory-Selbstzerfleischung?

Dann wäre überhaupt alles offen und möglich (eine UKIP/Tory-Koalition zum Beispiel).

Im Fall einer konservativ geführten Regierung käme es jedenfalls zur von Cameron versprochenen und von UKIP mitgetragenen EU-Austrittsabstimmung. Ein konservativer Premier (der dann wohl nicht mehr Cameron hieße) stünde vor der peinlichen Entscheidung, entweder seine Verhandlungen mit der EU für gescheitert zu erklären und einen Austritt zu empfehlen, oder gegen UKIP und die europhobe Mehrheit in den eigenen Reihen Wahlkampf für die EU zu machen.

Alles in allem drohen also drei Jahre innenpolitisches Chaos, inklusive des Zerfalls des Vereinten Königreichs, nach dem die Regierung des verbliebenen Kleinbritannien – begleitet von Störaktionen europhober EU-Parlamentarier – vergeblich versucht, ihr Verhältnis zu Brüssel neu zu ordnen, gefolgt von einer chauvinistisch geführten Europa-Debatte, die – egal, wie sie ausgeht – nur in einem innen- und außenpolitischen Scherbenhaufen enden könnte.
Und weil das allein zu fad wär, platzt irgendwann mittendrin auch noch die britische Immobilienblase.

Aber vielleicht ich bin einfach selbst zu sehr der verschreckte Österreicher, und die Briten wursteln sich da schon wieder irgendwie durch.

Einen Schirm würd ich zur Sicherheit aber schon einstecken.