Filmstill aus „Climax“
Viennale

Sex, Drogen und ein bisschen Tanzfilm

Von der ekstatischen Tanzperformance zum düsteren Alptraum: In „Climax“ überschreitet der umstrittene französische Filmemacher Gaspar Noe Genre- und Geschmacksgrenzen gleichermaßen. Irgendwo zwischen Tanz-, Horror- und Katastrophenfilm entwickelt die – angeblich wahre – Geschichte einen Sog, bei dem Wegsehen und -hören trotz obligatorischer Schockmomente schwerfällt.

Um Konvention kümmert sich Noe erfahrungsgemäß wenig, und so überrascht es eingefleischte Fans wohl auch nicht, dass „Climax“ nach einigen Minuten bereits den Abspann zeigt. „Basierend auf wahren Ereignissen“ steht darin geschrieben, nur ein paar Augenblicke nachdem man eine blutende Frau durch den Schnee robben gesehen hat.

Dann spult der französische Filmemacher zurück – im wahrsten Sinne des Wortes: „Climax“ spielt im Jahr 1996, der Rahmen für den Rest des Films wird mit Hilfe von VHS-Kassetten vorgestellt. Es sind kurze Castingvideos einer Tanztruppe, bestehend aus „Star Trek“-Darstellerin Sofia Boutella und einer Reihe von professionellen Tänzerinnen und Tänzern ohne Schauspielerfahrung.

Der Beat als ständiger Begleiter

Vor der Kamera reden sie über Liebe, Sex und ihre Leidenschaft für den Tanz, die alle verbindet. Der Großteil sei improvisiert gewesen, wie auch sonst das gesamte Drehbuch nicht mehr als zwei Seiten gehabt habe, sagt Noe, der im Rahmen der Viennale bei der Österreich-Premiere im Wiener Gartenbaukino anwesend war.

Filmstill aus „Climax“
Viennale
Sofia Boutella steht im Zentrum einer Party, die sich zum Alptraum entwickelt

Dann wechselt der Film in einen Turnsaal, in dem sich vor allem der Regisseur selbst austobt – auf mehreren Ebenen. Akustisch bedeutet das einen hypnotischen Soundtrack, bestehend aus Daft Punk (inklusive eines eigens für den Film geschriebenen Tracks von Thomas Bangalter, einer Hälfte des Electro-Duos), Aphex Twin und Giorgio Moroder, neben vielen anderen. Der Beat in „Climax“ ist ein ständiger Begleiter, der gleichzeitig eine Funktion einnimmt und den Schritt vorgibt.

Während die Tanztruppe für ihre anstehende Performance in den USA übt, spielt Noe mit der Kamera, zeigt die Tanzenden bevorzugt aus der Vogelperspektive und konzentriert sich dabei auf Körper und Bewegung. Bei der anschließenden Party setzt er auf Einstellungen, die scheinbar nicht enden, und wechselt mit Leichtigkeit von einer Figur zur nächsten, als wäre das Publikum selbst anwesend und würde von Grüppchen zu Grüppchen wandern.

Mit Sangria in den Abgrund

Die Party dient auch als Wendepunkt der Geschichte: Der Sangria wurde offenbar mit LSD versetzt, das jetzt nach und nach Wirkung zeigt. Drehten sich die Gespräche gerade noch jugendlich um „wer mit wem“, setzt der Rausch nun den Tänzerinnen und Tänzern zu, und der Film fährt die für Noe ganz typischen Geschütze auf.

Denn der französische Filmemacher ist vor allem für eine neunminütige Vergewaltigungsszene in „Irreversibel“ aus dem Jahr 2002 berüchtigt. In „Climax“ verzichtet Noe zwar auf allzu ausufernde Darstellungen, dafür deckt er fast alle Tabus ab: Es wird auf den Boden uriniert, mehrmals gegen den Bauch einer schwangeren Frau getreten, Inzucht angedeutet und ausgiebiges nervöses Kratzen gezeigt. Dass auch ein Kind Teil der Party ist, hält Noe – fernab der Hollywood-Konvention – nicht davon ab, anzuecken.

Höhepunkt der Grausamkeiten, so viel sei als Warnung verraten, ist eine Szene, in der sich eine der Figuren selbst verletzt. Bei der Premiere im Gartenbaukino veranlasste das nicht nur mehr als eine Handvoll Menschen zum Verlassen des Saals, zumindest eine Person dürfte dabei das Bewusstsein verloren haben und musste aus dem Kino getragen werden.

Aristoteles im Turnsaal

Für alle Überraschten und Leidtragenden wird Boutellas Figur der Selva zunehmend zur Identifikationsfigur. Ungläubig und verwirrt wechselt sie vom Turnsaal in die angrenzenden Zimmer, ihr Blick vermittelt stets, dass sie sich nichts sehnlicher wünscht, als dass die einem Alptraum ähnelnde Orgie endlich aufhört – angesichts der brutalen Direktheit, mit der der französische Regisseur arbeitet, wohl für viele ein nachvollziehbares Gefühl.

Filmstill aus „Climax“
Viennale
Unter Drogeneinfluss lässt Noe Konflikte auf der Leinwand eskalieren

War „Climax“ zu Beginn eine fast harmlos wirkende Annäherung an Tanzfilme der 1980er und 90er, stand spätestens zur Hälfte fest, dass der Film wie eine Tragödie endet. Noe setzt dabei ganz klassisch auf die für die Gattung charakteristischen aristotelischen Einheiten: die Einheit des Orts, den auf 24 Stunden begrenzten Zeitraum und das Chaos der Party als einzigen wirklichen Handlungsstrang.

Für Noe selbst „Katastrophenfilm“

Im Anschluss an die Vorstellung, die für einige im Publikum wohl nur schweißgebadet und zähneknirschend durchzustehen war, gab Noe eine interessante eigene Interpretation preis. Für ihn sei es ein „Katastrophenfilm“ – die Parallelen, etwa bei der Charakterisierung und der Dramaturgie, sind zumindest auf den zweiten Blick durchaus erkennbar. Auch das Happy End, das nur happy in dem Sinn ist, dass es nicht noch wesentlich schlimmer gekommen ist und erst das Ausmaß der Katastrophe bewusst macht, fehlt in Noes Film nicht.

Hinweis

„Climax“ wird im Rahmen der Viennale noch am 7. November um 20.30 Uhr im Gartenbaukino gezeigt.

In den österreichischen Kinos läuft der Film am 7. Dezember an.

„Das ist ein Alptraum“ heißt es irgendwann, lange nachdem die harmlose Party zur Horrororgie geworden ist. Wer Noes Filme kennt, wird damit gerechnet haben. Wer das erste Mal mit dem französischen Filmemacher in Kontakt kommt, darf durchaus die Frage stellen, ob „Climax“ – in Zeiten einer neuen Sensibilität in Hollywood – Witze über Vergewaltigungen und in Detailtreue gezeigte Selbstverletzung wirklich nötig hat.

Beschränkt man sich auf die technischen Qualitäten, kann man Noe – unabhängig von seinen umstrittenen Motiven – jedenfalls handwerkliches Geschick attestieren, denn sowohl optisch als auch akustisch überzeugt „Climax“. Letztlich muss man ihm aber auch zu einem glücklichen Händchen bei der Auswahl des Ensembles gratulieren: Neben Boutella trägt das Profitänzer-aber-Laiendarsteller-Ensemble wesentlich zum Erfolg bei – genauso wie Choreografin Nina McNeely, die die in Noes Filmen so wichtigen Körper eindrucksvoll in Szene setzt.